Die ersten Jahre
Dr. Josef Wilhelm Schmitz (1929-2017) gehörte zu den Ersten, die 1953 in das Kreuz‐Kolleg eingezogen. Anlässlich des 60jährigen Jubiläums des Hauses erinnerte er sich.
„Damals waren der Krieg und die harten Jahre der Nachkriegszeit noch nicht lange vorbei, und die wirtschaftliche Erholung stand noch sehr im Anfang. In der Stadt vollzog sich zwar der Wiederaufbau recht zügig, aber es war damals noch schwierig, ein Zimmer zu bekommen, wahrscheinlich noch schwieriger als heute. Die meisten Eltern waren in dieser Zeit noch recht schlecht gestellt, so dass von ihnen keine finanzielle Unterstützung zu erwarten war; die Löhne und Gehälter waren niedrig, der Bedarf nach einigermaßen bezahlbaren Familienunterkünften groß. Bafög gab es noch nicht, fast alle Studenten mussten nebenher oder zumindest in den Ferien arbeiten.
Unter diesen Umständen war die Möglichkeit, in einem Studentenheim unterzukommen, ein besonderer Glücksfall. Mein Freund Hans Kalthoff, der Philosophie studierte, und ich waren mehrere Semester tagtäglich vier Stunden mit Bus und Bahn zu und von der Uni unterwegs gewesen und suchten schließlich eine Wohnung in Köln. Zuerst haben wir es in der Katholischen Studentengemeinde in der Bachemer Straße versucht – leider ohne Erfolg.
Studentenpfarrer Wistuba, der kurz danach in den Alpen tödlich abstürzte, wies uns aber darauf hin, dass Frau Professor Schmittmann soeben ein kleines privates Studentenheim am Sachsenring eröffnet habe. Wir erhielten bei ihr sofort einen Vorstellungstermin, und im Verlauf eines längeren Gesprächs erläuterte sie uns, dass das Kreuz‐Kolleg mehr sein sollte als ein reines Wohnheim, sondern eher ein Haus der Begegnung, das junge Leute aus dem In‐ und Ausland zu einer selbstverwalteten Gemeinschaft auf christlicher Grundlage zusammenführen sollte. Auf dieser Grundlage sollten sie auch befähigt werden, später Verantwortung in Gesellschaft, Wirtschaft, Staat und Kirche zu übernehmen.
Kalthoff und ich schienen die Prüfung bestanden zu haben und konnten bereits ein paar Tage später einziehen. Uns wurde ein kleines Zimmer auf der dritten Etage neben der Hausmeisterfamilie Walter zugewiesen. Das Zimmer hatte schräge Wände und gerade Platz für zwei Klappbetten, einen Schrank, zwei kleine Arbeitstische, zwei Stühle und ein Waschbecken. Auf derselben Etage befand sich ein weiteres kleines Einzelzimmer und ein Zwei‐ bis Dreibettzimmer, und neben der Hausmeisterwohnung der Familie Walter eine Etagendusche und eine Toilette. Für damalige Verhältnisse war die Wohnung geradezu luxuriös, denn uns stand ja noch eine Küche mit Essraum, anfangs sogar ausgestattet mit ein paar Säcken Kartoffeln und Büchsen mit Fertigmahlzeiten, die von einer Großveranstaltung übrig geblieben waren, die Bibliothek mit Vortragsraum und ein Besuchszimmer zur Verfügung. Nach meiner Erinnerung wohnten damals 24 Studenten im Hause, nahezu alle in Doppel‐ und Dreibettzimmer; nur Senior und Heimleiter besaßen Einzelzimmer. (In den sechziger Jahren ist das Haus noch um ein paar Zimmer erweitert worden.)
Die Hausgemeinschaft war sehr unterschiedlich in dieser Zeit. Die eine Hälfte bestand aus jungen Abiturienten, die andere war zum Teil über dreißig Jahre alt. Viele von ihnen waren lange im Krieg gewesen, hatten zum Teil eine lange Kriegsgefangenschaft in Russland hinter sich, waren schwer verwundet gewesen. Schon der Alters‐ und Erfahrungsunterschied war ein Grund dafür, dass die unterschiedlichen Interessen und die Diskussionen oft hitzig waren und wir Jüngeren mit Vielem konfrontiert wurden, von dem wir bis dahin keine Ahnung hatten. Die Hausgemeinschaft war zu dieser Zeit eine reine Männergesellschaft, Studentinnen kamen erst Ende der siebziger Jahre ins Haus. Die ersten Studenten waren vorwiegend Philologen, Wirtschaftswissenschaftler und Juristen. Die anderen Fakultäten waren kaum vertreten.
In der Hausordnung gab es einen sogenannten Damenparagraphen, der immer wieder zu Diskussionen Anlass gab. Er besagte, dass Damen keinen Zugang zu den Zimmern der Studenten hatten, sondern nur im Besuchszimmer empfangen werden durften, und zwar, wenn ich mich recht entsinne, bis längstens 22 Uhr.
Nun zunächst ein Wort zu Frau Schmittmann. Sie wurde, wie damals üblich, von nahezu allen mit „Frau Professor“ angesprochen; unter uns nannten wir sie allerdings „Tante Ella“. Als das Kreuz‐Kolleg in Erfüllung des Testaments ihres Mannes eröffnet wurde, war sie 73 Jahre alt. Sie war eine für ihr Alter repräsentative, gut aussehende vornehme Dame mit lebhaften Augen und stets sehr offen im Gespräch. Sie war immer sehr freundlich und verstand es, auf Menschen zuzugehen. Ihre Sprache verriet deutlich ihre kölnische Herkunft. Sie trug meist lange dunkle Kleider, kaum Schmuck, aber immer ein eng anliegendes Seidenband um den Hals.
Als das Kreuz‐Kolleg eröffnet wurde, zog sie mit ihrer langjährigen Haushälterin Fräulein Traud auf die andere Seite des Sachsenrings in das Haus Nr. 51 auf den ersten Stock. Sie oder Fräulein Traud kam aber täglich ins Kreuz‐Kolleg, um Material zu verteilen oder anfangs auch nur um die Hühner zu füttern, die sie hinter dem Studentenheim noch hielt.
Wenn Frau Schmittmann Besuch in ihrer Wohnung hatte, lud sie in aller Regel einige Kollegiaten dazu ein. Die Gesprächsführung lag zwar immer bei ihr, jedoch achtete sie stets darauf, dass auch die jungen Leute immer angemessen zu Wort kamen.
Besonders in politischen Fragen mischte sich Frau Schmittmann auch öffentlich ein. Schon vor 1950 hatte sie einen Verein, die „Katholische Europaliga“ gegründet. Dieser Verein war eigentlich kein Verein, denn er war nicht eingetragen, hatte außer ihr kein Vorstandsmitglied, kein Kapital, keine Geschäftsführung, sondern war einzig ihr Sprachrohr gegenüber vielleicht einigen hundert einflussreichen Bekannten, Politikern, Kirchenleuten etc. An diesen Kreis richtete sie etwa alle zwei bis drei Monate einen Rundbrief, in dem sie ihre Gedanken zu Zeitproblemen in ausgefeilter Sprache zum Ausdruck brachte. Den Entwurf dieser Rundbriefe drückte sie einem halben Dutzend Kollegiaten einige Tage vor Versand in die Hand und erwartete von uns Stellungnahmen, Anregungen oder Korrekturen.
Die Katholische Europaliga führte Frau Schmittmann in die bestimmenden Gremien mancher europäischer Organisationen, den Deutschen Rat der Europäischen Bewegung, die Europa‐Union, den Bund Europäischer Föderalisten. In den Vorständen dieser Organisationen arbeitete sie engagiert mit und ihre Beiträge wurden von allen sehr ernst genommen. Auch in Kölner politischen und kulturellen Institutionen war ihr Rat gefragt.
Frau Schmittmann war eine sehr starke Frau. Nachdem sie die Nachricht erhalten hatte, dass ihr Mann in Oranienburg einem „Herzanfall“ erlegen sei, erwirkte sie in Berlin die Anordnung eines Ministeriums, dass der Leichnam nicht zu verbrennen, sondern zur Abholung durch Frau Schmittmann bereitzustellen sei. Sie holte also den Leichnam in einem von ihr besorgten Sarg, der verlötet und mit Eisenbändern umschlossen war, im KZ ab und brachte ihn persönlich zur Beerdigung nach Düsseldorf.
Ein anderes Beispiel ihrer Courage. Gegen Ende seiner Amtszeit als Bundeskanzler tat Adenauer, der von Jugend an mit Frau Schmittmann befreundet war, öffentlich sein Interesse am Amt des Bundespräsidenten kund, verzichtete jedoch ein paar Wochen später auf seine Bewerbung, nachdem ihm klar geworden war, dass die Macht des Bundespräsidenten doch sehr begrenzt war. Frau Schmittmann fand diesen auch in der Öffentlichkeit stark kritisierten Rückzug dem Amt Bundespräsidenten gegenüber als sehr abträglich und schrieb ihm dies auch in einem sehr deutlichen Brief. Adenauer nahm diese Kritik offenbar sehr ernst. Die handschriftliche Antwort erreichte Frau Schmittmann nur wenige Tage später.
Frau Schmittmann war eine durch und durch religiöse und auch fromme Frau, aber in keiner Weise doktrinär. Solange sie konnte, besuchte sie auch werktags die Messe in St. Paul, oft begleitet von Maria Walter. Sie hat oft betont, dass sie ohne ihr religiöses Fundament die schweren Prüfungen ihres Lebens nicht hätte bestehen können.
Frau Schmittmann kümmerte sich um die Arbeitsgebiete eines jeden Studenten. Aus einer Unzahl von Zeitungen und Zeitschriften,die sie täglich las, schnitt sie relevante Artikel aus, die sie oder Fräulein Traud uns am nächsten Tag unter der Tür her schob. Auch im späteren Leben versorgte sie uns z.B. vor Familienurlauben mit informativen Artikeln, dachte an Geburtstage oder Namenstage. Ihre Briefe unterzeichnete sie in der Regel mit „m.f.“ für „mater familias“. Ich glaube, so fühlte sie sich auch.
Das Veranstaltungsleben im Kreuz-Kolleg war vielfältig. Es bestand in erster Linie aus öffentlichen Vorträgen und Diskussionen über politische, sozialpolitische, europapolitische und theologische Themen. Auf Grund des hohen Bekanntheitsgrads von Frau Schmittmann hatten wir keine Schwierigkeiten, an sehr gute Referenten aus Politik und Wissenschaft heranzukommen. Oft waren es Minister, Abgeordnete, Professoren, oft auch ausländische Professoren, die Deutschland kurz vor dem Krieg hatten verlassen müssen und die Frau Schmittmann stets zusammen mit zwei oder drei Kollegiaten vorher zu sich zum Tee einlud.
Ein ganz regelmäßiger Gast war in den Anfangszeiten Professor Paulus Lenz‐Medoc von der Sorbonne, ein früherer Mitarbeiter von Benedikt Schmittmann. Er war ein hervorragender Rhetor und vermochte es, zu allen politischen und gesellschaftspolitischen Fragen, vor allem aber zum deutsch‐französischen Verhältnis Stellung zu nehmen. Er und seine Frau übernachteten in der Regel im Hause. Wenn eine Veranstaltung und die übliche anschließende Weinrunde um 23 Uhr zu Ende waren, diskutierten wir oft bis ein oder zwei Uhr im Treppenhaus weiter mit ihm. Lenz‐Medoc war der Star unter unseren Referenten.
Studienreisen gab es in den fünfziger Jahren noch nicht, aber wir erhielten regelmäßig Stipendien zu den Salzburger Hochschulwochen und den Sémaines Sociales in Frankreich. Nicht selten drückte Frau Schmittmann den Stipendiaten bei der Verabschiedung einen kleinen Geldschein als Reiseproviant in die Hand.
Im Kreuz‐Kolleg der ersten Jahre kam auch das Gesellige nicht zu kurz. Bei Bier und Wein und zum gemeinsamen Kochen trafen sich Hausbewohner fast täglich in den Küchenräumen oder in einem unserer Zimmer und diskutierten bis spät in die Nach Über Gott und die Welt. Der Bunker, das Zimmer, das ich nach meinem Examen für einige Zeit bewohnen durfte, war besonders beliebt. allerdings lag es unter der besonderen Aufsicht von Tante Ella, die von ihrer Wohnung am Sachsenring 51 aus beobachten konnte, wie lange Licht bei mir brannte. Ich kann mich erinnern, dass sie mich einmal aufforderte, endlich Schluss zu machen.
Sehr seriös ging es bei sonntäglichen Tanztees zu, zu denen Frau Schmittmann gelegentlich einlud. Dazu konnte auch jeder Kollegiat seine Freundin oder Bekannte einladen, aber Frau Schmittmann lud auch stets ein paar Damen aus ihrem Kölner Bekanntenkreis ein. Man erschien in angemessener Kleidung und alles ging sehr gesittet zu. Frau Schmittmann beobachtete das Geschehen häufig aus dem Hintergrund.
Wir hatten auch einen Männergesangverein mit dem Namen „Euroklang“. Sein Gründer und Dirigent Paul Kötters starb sehr früh, und ein Nachfolger liess sich nicht finden. Der Karneval wurde selbstverständlich im Hause ausgiebig gefeiert, besonders am Rosenmontag ging es im Hause sehr munter zu, denn der Karnevalszug stellte sich zu dieser Zeit am Sachsenring auf.
Für die erste Generation der Hausbewohner war der 75. Geburtstag von Frau Schmittmann unvergesslich. Viel Prominenz versammelte sich im April 1955 aus diesem Anlass in unserem Hause. Bundeskanzler Adenauer hielt eine sehr launige Festrede und heftete ihr das Bundesverdienstkreuz an. Anwesend waren auch Kardinal Frings, der Oberbürgermeister, der Regierungspräsident, der Rektor der Universität und eine Reihe von Professoren, Vertreter des Adels und natürlich alle Kollegiaten in dunklen Anzügen mit silbernen Krawatten, so wie sich das damals gehörte. Wir halfen nicht nur bei der Bedienung der Gäste, sondern hatten auch Gelegenheit, uns mit ihnen auszutauschen. Frau Schmittmann zeigte sich sehr stolz auf ihr Werk, Photos von ihrem Festtag schickte sie in großer Zahl an Bekannte und Freunde.
Alle folgenden besonderen Geburtstage haben wir immer im kleinen Kreis auf dem Marienhof im Siebengebirge gefeiert. Gäste von Frau Schmittmann waren jedes Mal Bundeskanzler Adenauer und alle Kollegiaten.
Ihren 90. Geburtstag beging Frau Schmittmann in einem Zimmer der Wohnung von Familie Walter, wo Prälat Paul Adenauer eine Messe zelebrierte. Hier fühlte sich Frau Schmittmann , liebevoll von Familie Walter gepflegt, bestens aufgehoben. Frau Schmittmann starb am 21. Dezember 1970 in ihrer Wohnung. Eine Woche später wurde sie auf dem Nordfriedhof in Düsseldorf neben ihrem Ehemann beerdigt.
Zum Schluss: Ich bin vor 60 Jahren in unser Haus eingezogen, habe sieben Jahre hier gewohnt, war 25 Jahre Mitglied des Vorstands und durfte 17 Jahre von einem engen Verhältnis zu Frau Schmittmann profitieren. Das Schmittmann‐Kolleg und viele seiner ehemaligen Bewohner, von denen die meisten nicht mehr unter uns sind, haben für mein Leben eine ganz besondere Bedeutung gehabt. Dafür bin ich bis heute sehr dankbar.
So darf es mir gestattet sein, all denen am Ende der sechs Jahrzehnte Anerkennung und Dank zu sagen, die in dieser Zeit unendlich viel Arbeit und Gestaltungskraft in das Kreuz‐Kolleg und das Schmittmann‐Kolleg gesteckt haben. Das gilt vor allem für die Vorstände von Verein und Stiftung, von denen sich manche nicht mehr an die frühere Zeit zurückzuerinnern vermögen wie mein Schwager Willi Koll. Ein besonderes Wort des Dankes verdient am heutigen Tage die Familie Walter-Hiertz. Sie war von Anfang an die gute Seele des Hauses, immer besorgt um jeden Einzelnen und auch heute noch Anlaufstelle für manche Ehemaligen. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, dass die studentische Gemeinschaft auch eine wirkliche Hausgemeinschaft ist.“