Friedhelm Kuschildgen „war nie einer, der sich in die erste Reihe gestellt hat, dessen Qualitäten kamen erst raus, wenn man ein bisschen Zeit hatte und mit ihm dann so sprach“. Er hatte eine sehr ruhige Art, wollte nicht im Mittelpunkt stehen. Er hatte schon seine Meinungen und seine Haltung und er sagte sie auch, wenn es nötig war. Mit erhobenem Zeigefinger. Aber er war nicht laut, drängte sich nicht in den Vordergrund. Nahm sich selbst nicht so wichtig und sprach auch nicht so viel über sich.

Wir sitzen im TV-Raum, einige Schmitties, Fener und Max auf dem Sofa entlang des Bücherregals, Jannika und Laura auf der Couch neben der Tür. Es ist ein Vormittag im September, die Sonne scheint golden durch den Erker, erreicht unser kleines Kaffeetischchen auf der anderen Seite des Raums aber nicht ganz. Auf dem Tisch hat Fener eine Kanne Kaffee bereitgestellt, dazu zwei Schalen mit Keksen. Alle haben Notizbücher oder Ipads oder Handys oder Laptops mitgebracht. Wir möchten aufnehmen und notieren, was uns im Gespräch gleich erwartet.

Zum Gespräch herein kommt einige Minuten später Herr Klaus Kohlhoff. Ein echt‘ kölsch‘ Jung, das hört man auch direkt zu Beginn des Gesprächs. Ob jemand von uns aus dem Ausland komme, Düsseldorf meint er damit. Und schüttelt missbilligend den Kopf. Seinen Kaffee trinkt er gern mit Milch, aber nicht umgerührt. Das ist wie in James Bond, sagt er.
Ein bisschen sind wir Schmitties schon vorbereitet auf dieses Gespräch. Am Sonntag davor haben wir uns abends getroffen. Fener hatte die zwei Kisten mit Herrn Kuschildgens Dokumenten in die Mitte des Zimmers geräumt. Wir, das heißt Merci, Jannika und Laura, drapierten uns rundherum, auf dem Sofa oder auf dem Fußboden. Es gab eine Kanne Tee und dann begannen wir gemeinsam Dokumente aus den Kisten hervorzuholen und sie vor uns auf dem Fußboden auszubreiten: Ein Kinderfoto von Friedhelm Kuschildgen, neben ihm eine erwachsene Frau und ein kleines Mädchen. Seine Mutter und seine Schwester vielleicht? Seine Schwester, so wissen wir aus einem anderen Dokument, ist mit 19 Jahren durch eine Krankheit verstorben. Es gibt Briefe, die Herr Kuschildgen geschrieben, vielleicht aber nie abgeschickt hat. Daraus geht hervor, dass seine Mutter an Demenz erkrankt war. Und dass er sie gepflegt hat, bis zu ihrem Tode.

Wir verlieren uns auch ein wenig in dieser Kiste. Versuchen, alte Schriftstücke zu entziffern, bestaunen Zeitungen aus dem Jahre 1903, die auch Kuschildgen selbst von älteren Familienmitgliedern bekommen haben muss. Vor unserem inneren Auge entsteht eine sehr grobe Skizze der Person, deren Habseligkeiten hier in diesem Raum gerade um uns verstreut sind: Wir lesen Schulzeugnisse, finden einen sehr lobenden Bericht über einen Unterrichtsbesuch. Er konnte sich gut in die Schüler hineinversetzen, jeden mitnehmen. Herr Kuschildgen war Lehrer. Genauer: Lehrer für Musik. „Die Musik war sein Leben“ wird Herr Kohlhof uns einige Tage später im TV-Raum enthusiastisch erzählen.

Zunächst aber, am Sonntagabend, müssen wir uns damit abfinden, nur eine dünne Bleistiftskizze von Friedhelm Kuschildgen vor unserem inneren Auge zu sehen. Als wir unseren Tee ausgetrunken und die Dokumente aus den Kisten einmal durchgesehen haben, kennen wir nur einige wenige Stationen in seinem Lebenslauf, haben nur einen ganz schattenhaften Eindruck von seiner Persönlichkeit.
Deshalb also das Gespräch mit Herrn Kohlhof, der Herrn Kuschildgen zu Lebzeiten kannte, zumindest in der letzten Lebensphase, da aber gut, sagt er selbst. Einige von uns, Max, Jannika und Laura, treffen sich am Morgen vor dem Gespräch in der Schmittie-Küche beim Frühstück. Wir erhoffen uns vor allem, die trockenen Fakten aus Herrn Kuschildgens Dokumenten ein bisschen zum Leben erwecken, der Bleistiftskizze vor unserem inneren Auge ein paar Farbkleckse hinzufügen zu können.

Gleichzeitig überlegen wir auch, wie schade es ist, dass Herrn Kuschildgens letzter Wunsch nicht ganz in Erfüllung gegangen ist. Unter den Dokumenten in den Kisten befindet sich nämlich ein Zeitungsartikel sowie das Testament von Herrn Kuschildgen. Den Artikel hat der Kölner Stadtanzeiger am 5. Dezember 2012 gedruckt. Darin berichtet Eva Maria Helm über die Schmittmann’sche Selbstverwaltung: Benedikt Schmittmann und Helene Wahlen, das Konzept Semesterprogramm, am Schluss des Artikels kommt Frau Hiertz zu Wort. Herr Kuschildgen hat den Artikel ausgeschnitten. Einmal gefaltet liegt er nun zusammen mit den anderen Dokumenten in den Kisten. Dabei auch ein Ausdruck der Website des Schmittmann-Kollegs aus dem Jahr 2012. Und natürlich das Testament, in dem sich Herr Kuschildgen wünscht, dass auch aus seinem Haus, das in Riehl ganz in der Nähe der Kölner Flora steht, einmal ein Wohnheim gemacht wird. Ein Ort wie das Schmittie. Und an der Fassade des Hauses soll eine Plakette angebracht werden, die den Namen seiner so früh verstorbenen Schwester trägt.

Leider lässt sich Herrn Kuschildgens Haus aufgrund seiner Struktur nicht als Wohnheim nutzen. Deshalb hat die Schmittmann-Wahlen-Stiftung entschieden, wie es auch dem Wunsch Kuschildgens in seinem Testament entspricht, das Haus zu verkaufen und die Erlöse den Zwecken der Stiftung, insbesondere dem Schmittmann-Kolleg zugutekommen zu lassen. Und dennoch, finden wir in der Küche: Von einem Schmittie 2.0. hat nicht nur Herr Kuschildgen geträumt. Viele von uns finden, dass es einen Ort wie das Schmittie noch häufiger geben sollte. Andererseits, und auch das ist in dieser Küche schon öfter überlegt worden, ist das Schmittie vielleicht gar nicht in erster Linie ein Ort. Vielleicht kommt es eher darauf an, wie man mit anderen Menschen umgeht, wie man miteinander lebt. Und darum, entscheiden wir am Ende des Frühstücks gemeinsam, soll es auch in diesem Text hier gehen.

Auf Herrn Kohlhof sind wir durch einige Detektivarbeit gestoßen: Wir sind die Dokumente von Herrn Kuschildgen durchgegangen, haben seine Bekannten gegoogelt und mit ihnen telefoniert und sind so schließlich auf Herrn Kohlhof gestoßen: Herr Kuschildgen sang (als Bass) im KölnChor, dem Herr Kohlhof im Jahr 2005 als Tenor beitrat. Natürlich war Herr Kuschildgen ein sehr guter und zuverlässiger Sänger im Chor, erzählt Herr Kohlhof. Richtig kennengelernt hat man ihn aber vor allem bei den Chorfahrten, nach Russland zum Beispiel oder häufig nach Nürnberg, in die Stadt des Partnerchors. Herr Kuschildgen war bescheiden und nicht aufdringlich. Man müsse doch einmal probieren, wie das Bier anderswo schmecke, sagte er, wenn er mit den anderen auf der Chorfahrt noch eine Kneipe besuchen wollte. Oder, dass er mal schauen möchte, wie die Luft draußen so ist, wenn er eigentlich eine Zigarette rauchen wollte. Das war eben so seine Art, sagt Herr Kohlhof. Eine ganz ruhige Art. Ein feiner Mensch eben.

„Das Miteinander mit den Menschen bewusst zu begleiten“, das war Herrn Kuschildgen wichtig. Es ging ihm nicht darum „sich um Arme zu kümmern“ oder so etwas, wenn er sich zum Beispiel in der Kölner Seniorenvertretung engagierte, sagt Herr Kohlhof. Und es habe die beiden auch verbunden, dass sie sich erfreuten daran, dass Menschen zusammenkamen, „Man hat Spaß mit den anderen! Das ist ein Element des Lebens, des bewussten Lebens.“

Im Anschluss an unser Gespräch führen wir Herrn Kohlhof noch durchs Haus. Dabei stoßen wir auf Frau Hiertz, kölsch trifft kölsch, das Gelächter tönt durchs Treppenhaus, als einige von uns das benutzte Kaffeegeschirr zum Spülen in die Küche tragen, wo wir auf andere Schmitties treffen; Carlotta hat gerade Besuch mitgebracht.

Ab und zu spielen wir in der Schmittie-Küche „Frage des Tages“. Dann steht an der Tafel hinter der Küchentür eine Frage, unter die alle Mitbewohner*innen eine Antwort schreiben können. Vor einigen Jahren hieß die Frage einmal: „Gibt es ein Leben nach dem Schmittie?“. Damals hat jemand geantwortet: „Das Schmittie ist ein Lebensstil.“